Einer flog aus dem Schreiadler-Nest
Wochenlang wurde er von Feinden wie Rabenvögeln belagert und belästigt. Er musste Stürme und Gewitter abwettern – und vor allem musste er eins: viel fressen und schnell wachsen! Jetzt ist aus dem Küken ein prächtiger Schreiadler geworden. Umsorgt von seinen Eltern und dabei Tag für Tag von über 1.000 Menschen per Live-Schaltung aus dem Schreiadlerhorst beobachtet, hat er es geschafft: Der Jungvogel ist flügge. Er zieht immer weitere Kreise um den Adlerhorst, um in wenigen Wochen Richtung Afrika durchzustarten. Aufgrund der Flugübungen war der junge Schreiadler in den letzten Tagen nur noch sehr selten auf der Internetseite der Deutschen Wildtier Stiftung zu beobachten.
„Seit dem Schlüpfen Anfang Juni hat der Jungvogel sein Gewicht fast um das 20-Fache gesteigert“, sagt Dr. Andreas Kinser, Schreiadlerexperte der Deutschen Wildtier Stiftung. Der verfressene „Halbstarke“ verschlang alles, was die Altvögel ihm serviert haben: Frösche und Kröten, Mäuse und Maulwürfe. Wie sieht die Nahrung der Küken aus? Genau um diese Frage ging es den lettischen Biologen, die die Webcam im Frühjahr an dem Schreiadlerhorst in Lettland installiert hatten. Die größte Herausforderung steht dem Jungvogel aber noch bevor: Er muss die richtige Zugroute in sein Winterquartier finden. Schreiadler sind Thermiksegler, die beim Langstreckenflug die Aufwinde über dem Land nutzen müssen. Über das offene Meer können sie nicht fliegen. Und so verläuft der Zug der Schreiadler über den Bosporus.
Doch wie finden die unerfahrenen Flieger die sichere Route? Dabei sind junge Schreiadler auf den Anschluss an erfahrene Altvögel angewiesen. Das zeigen die neuesten Ergebnisse aus einem Projekt der Deutschen Wildtier Stiftung. Zogen die Jungadler aus Deutschland allein los, wählten sie häufig die Richtung Süden und verendeten oft zwischen Italien und Afrika im Mittelmeer. Mit erfahrenen Altvögeln ziehende Jungadler flogen dagegen auf dem richtigen Zugweg nach Südosten und erreichten so den Bosporus.
Ein weiteres Phänomen wurde durch das Projekt „Jungvogelmanagement“ der Deutschen Wildtier Stiftung ebenfalls bekannt. Wenn Schreiadler als Küken aus einem Horst entnommen und per Hand aufgezogen werden, kehren sie stets in die Region zurück, in der sie gefüttert wurden und aufgewachsen sind und nicht in die Region, in der sie geschlüpft sind. Der Auswilderungsort ist zu ihrer neuen Heimat geworden. Deshalb tauchten später ursprünglich „lettische“ Schreiadler als Brutvögel in Deutschland und Polen auf.
Wenn alles klappt, erreicht der Jungvogel, der vor der Webcam groß und stark geworden ist, im November sein Winterquartier im südlichen Afrika und kehrt dann Anfang April 2018 in seine Heimatregion in Lettland zurück. Mit etwas Glück landen seine Eltern dann wieder direkt vor der Webcam ihres Horstes und beginnen eine neue Brut.